Leseprobe Kurzgeschriebenes Band 1

Ein Auszug aus meiner Kurzgeschichte Unser Herr Diehsel aus Kurzgeschriebenes Band 1.

Es ist Donnerstag, früh am Morgen. Am morgigen Tag endet eine weitere Woche. Ich stehe
mit Sarah an der Bushaltestelle. Sie freut sich und wird mit jeder Minute zappeliger. Aber sie
bleibt an meiner Hand. Ich habe ihr nur einmal erklärt, wie gefährlich es an einer Straße sein
kann. Seitdem nimmt Sarah freiwillig meine Hand, wenn wir auf den Gehwegen unterwegs
sind. Darüber bin ich froh. Häufig beobachten wir beim kollektiven Warten auf den Bus die
anderen Kinder. Die Jungs sind meistens ziemlich wild und toben auf dem Gehweg,
während die Eltern in Gruppen über dieses und jenes reden. Die Mädchen sind eher ruhiger.
Sie toben seltener mit den Jungs zusammen. Sie sind meistens mehr unter sich. Heute ist
es allerdings leiser.
Von der Schule habe ich erfahren, dass die Grippe kursiert. Das ist gestern mit einer Info-Mail der Elternvertretung gekommen. Ganz praktisch, wenn man nicht viel Zeit hat. Oder
keine Lust. Sollte ich nicht verpflichtend einer Theateraufführung von Sarah beiwohnen oder
mir das jährliche Weihnachtsbasteln aufgehalst haben, pflege ich meine Zeit so zu gestalten,
dass der Haushalt, Job und meine Tochter in imaginär eingeteilten Zeitfenstern gut umsorgt
sind. Ich träume vor mich hin, verliere mich in der Zeit, als jemand an meinem Arm zieht.
»Papa, wo ist denn der Bus?« Sarah sieht mich erwartungsvoll an. Ich blicke auf das große
schwarz-weiße Ziffernblatt der turmartigen Uhr gegenüber, auf der anderen Straßenseite.
Fast zwei Minuten war noch Zeit.
»Er hat noch etwas Zeit, mein Spatz.«
»Da ist er ja!« Sarah macht ein paar Hopser vor Freude und lacht. Soeben kam der Bus um
die Ecke gerollt, nachdem er an der Straßenkreuzung noch ein paar Fußgänger vorbeilassen
musste.
»Habe ich dir ja gesagt.«
Direkt vor uns hält Herr Diehsel den Bus an und öffnet unter zischender Druckluft die Türen.
»Guten Morgen«, sagt Herr Diehsel mit lauter Stimme, um den Motorenlärm zu
übertrumpfen, und nickt uns zu.
»Moin Herr Diehsel!« Ich antworte lauter als gedacht. Ich sehe wohl ziemlich erschrocken
aus, denn der nette Busfahrer lacht laut und winkt Sarah in den Bus herein.
»Komm, Kleine, steig ein. Wir müssen los. Die anderen Kinder wollen auch abgeholt
werden«, sagt er, während sein Lachen langsam verstummt.
»Ich weiß das wohl«, sagt Sarah und stemmt ihre kleinen Hände in die Hüfte, um ihre
Antwort in aller Deutlichkeit zu untermalen.
»Tschüss Papa!« Sie gibt mir einen flüchtigen Kuss und folgt den Anweisungen von Herrn
Diehsel.
»Tschüss, meine kleine Prinzessin«, erwidere ich.
»Guten Morgen Herr Diehsel!« Erst jetzt grüßt meine Tochter zurück. Danach schließen sich
die Türen und der Bus rollt an. Ich nicke unserem Busfahrer zu, was er lächelnd erwidert und
sich dann auf den Verkehr konzentriert. Sarah sitzt ganz vorn am Fenster und winkt mir zu.
Ich hebe die Hand, ohne sie hin und her zu schwenken. Dabei fällt mir auf, besonders viele
Kinder sind heute nicht im Bus. Wohl der Grippe wegen. Er wirkt unheimlich leer. Die
Handvoll mitfahrender Kinder haben sich großzügig im Fahrgastraum verteilt. Ein Junge
drückt sein Gesicht an die Fensterscheibe. Als der Busfahrer auf das Pedal tritt, um aus der
Haltebucht zu fahren, rutscht das Gesicht bis an den Fensterrand. Eine Spur aus Speichel
demonstriert eine fast gerade Linie bis zum Mund des Jungen. Innerlich denk ich nur: »Echt
jetzt?« Die übrigen Kinder scheinen noch zu schlafen, wenn auch mit offenen Augen.
Sarah schaut mich noch einen Moment lang an, blickt dann nach vorn. Ich warte noch, bis
der Bus an der Kreuzung rechts einbiegt. So mache ich es immer. Heute habe ich frei, kann
mich endlich mal etwas ausruhen. Doch erst muss ich noch die Schmutzwäsche waschen
und aufhängen, kurz Staubsaugen, den Abwasch bezwingen und die Wohnung lüften. Ach
ja, einkaufen muss ich auch noch. Mein vermeintlich freier Tag erweist sich als normaler Tag,
nur ohne zur Arbeit zu müssen.
Während ich mein Pflichtprogramm fast vollautomatisch abarbeite, habe ich Zeit über
dieses und jenes nachzudenken. Auch über Herrn Diehsel. Er hat immer gute Laune, ist
stets pünktlich und steuerte den Schulbus bereits, als ich vor etlichen Jahren ein Schüler
war. Damals drehte er die Lautstärke des Radios im Bus oft sehr laut und sang einige Lieder
mit. Wir Kinder mussten dann immer über seine Grimassen lachen, die er dabei machte. Das
konnte man sehr gut in der spiegelnden Windschutzscheibe sehen. Manchmal erzählte er
auch Witze über das Mikrofon im Bus. Man hörte deutlich seine Stimme, doch verstand ich
nicht jeden Witz. Damit war ich zum Glück nicht allein. Herrn Diehsel machte das nichts aus,
wenn er es bemerkte. Er lachte dann umso mehr über seinen eigenen Witz.
Dabei fällt mir auf, dass er auch nicht zu altern scheint. Er sieht noch immer so aus wie
damals. Manchmal möchte ich ihn einfach dafür danken, wie er sich immer um die
Sicherheit unserer Kinder bemüht. Auch dafür, dass er mich damals mit seiner witzigen und
albernen Art bespaßt hat. Und jetzt für meine Tochter. Ich kenne ihn fast mein ganzes Leben.
Jeden Tag nach der Schule erzählt mir Sarah, was Herr Diehsel wieder Lustiges angestellt
hat. Am besten mach ich das gleich heute, wenn ich meine Tochter vom Bus abhole. Da
kann ich Herrn Diesel dann endlich meinen Dank aussprechen.
Da bin ich schon wieder unterwegs. Meinen freien Tag nutze ich dann doch nicht zum
Entspannen. Gleich bin ich an der Schulbus-Haltestelle. Der kommt auch schon in wenigen
Minuten. Mich beruhigt, dass ich den Haushalt wieder auf Vordermann gebracht habe. So ist
es am Wochenende weniger, hat ja auch was Gutes.
Am Nachmittag stehen hier heute tatsächlich mehr wartende Eltern herum, als es am
Vormittag der Fall war. Ist das mit der Erkältungswelle wohl doch nicht so dramatisch, wie
von der Elternvertretung angepriesen?
Da ist er, der Bus. Pünktlich wie immer, stelle ich mit dem Blick auf die Uhr fest. Hamburgs
Straßen sind chronisch verstopft und laut. Wie Herr Diehsel es trotzdem schafft, immer
pünktlich vorzufahren, bleibt ein Mysterium. Sarah steigt als Letztes aus der vorderen Tür.
Sie springt mir in die Arme und beginnt sofort zu erzählen, dass sie heute multiplizieren in
der Schule gelernt hat. Ich widmete meine Aufmerksamkeit erst Sarah, dann kurz unseren
Busfahrer, um ihm zu danken. Zu spät. Die Türen sind zu und er fährt bereits los. Mist,
verpasst.
»Dann eben morgen«, denke ich mir und widme mich wieder meiner Tochter, die ich auf den
Boden absetze, da sie mir zu schwer wird. Ganz nebenbei greift sie meine Hand, als wir uns
auf dem Weg nach Hause machen.
Freitag früh. Ich spüre jeden einzelnen Knochen in mir. Habe es wohl gestern mit der
Hausarbeit übertrieben. Oder vielleicht zu doll mit Sarah getobt. Während ich mich langsam
durch die kleine Wohnung bewege, bestätige ich mir selbst, dass meine Wehwehchen einer
Kombination aus Toben und Haushalt entstammen. Auf dem Klo höre ich meine Tochter in
ihrem Zimmer reden. Sie ist heute schon vor mir aufgestanden und durch die Wohnung
gedüst. Eigentlich auch kein Wunder, dass die Kleine schon so mobil ist. Sie ist ja auch
gestern nach dem Abendbrot ziemlich früh eingeschlafen, vollkommen platt. Nachdem ich
sie ins Bett getragen habe, schlief ich, wie meine Tochter es vor mir tat, auf dem Sofa ein.
Und genau dort bin ich aufgewacht. Mit prall gefüllter Blase und Muskelkater. Nach einem
kleinen Frühstück mit gebuttertem Toast und Marmelade machen wir uns fertig, um den
Schulbus nicht zu verpassen. Ranzen gepackt, Jacke und Schuhe an, abmarschbereit.
Auf dem Weg zum Bus kommen wir an einem Plakat vom Reisebüro, das ein paar Straßen
weiter seinen Geschäften nachgeht, vorbei. Die Botschaft ist deutlich: Jetzt Winterurlaub
buchen und sparen!
Von der Werbung animiert unterhalten wir uns über den Traumurlaub schlechthin. Nicht über
irgendeinen Urlaub. Da hat ja jeder seine ganz eigene Vorstellung. Sogar wir.
An der Bushaltestelle prüfe ich zuerst mal die Uhrzeit. Schließlich kann man bei so
intensiven Gesprächen auch mal die Zeit vergessen. Aber alles im Lot. Zwei Minuten vor der
Zeit. Ich bemerke einen rothaarigen Jungen, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Er muss
so in Sarahs Alter sein. Neun, vielleicht auch etwas jünger. Jungs sehen selten so alt aus,
wie sie tatsächlich sind. Während ich durch die Gegend schaue, fällt mein Blick erneut auf
die große Uhr gegenüber.
»Zu spät«, sage ich leise.
»Was?« Sarah zog an meiner Hand.
»Der Bus«, sage ich.
»Was ist mit dem Bus?«
»Der Bus ist zu spät«, antworte ich.
Sarah schaut nun selbst zur Uhr hinüber. Einen Moment später kommen noch zwei Jungs
angerannt. Sie werden langsamer, als sie uns sehen.
»Herr Diehsel kommt niemals zu spät«, schimpft Sarah.
»Vielleicht hat er ja auch die Grippe bekommen«, sage ich, nach einer Erklärung suchend.
»Kann sein.« Mehr sagt sie nicht. Sie starrt unentwegt in die Richtung, aus der der Bus
kommen muss. Die Sonne scheint ihr dabei direkt ins Gesicht. Mit zugekniffenen Augen,
einen winzigen Spalt zum Gucken geöffnet, stellt sie sich den Sonnenstrahlen entgegen. Die
Jungs an der Bushaltestelle bilden eine Dreiergruppe. Sie besprechen die Lage und gehen
zu Fuß los, damit sie nicht zu spät zum Unterricht erscheinen. Ich überlege auch, ob wir
nicht loslaufen sollen. Doch zu warten erscheint mir als die bessere Lösung. Also warten wir.
Zehn Minuten, zwanzig Minuten. Das reicht. Ich halte laut pfeifend ein Taxi an. Dem Fahrer
gebe ich einen Zwanzigeuroschein und nenne ihm die Adresse der Schule. Er weiß, wo das
ist. Sarah und ich setzen uns auf die Rückbank. Ich ziehe die Tür schwungvoll zu und wir
fahren mit dem Taxi los zur Schule. Unterwegs rufe ich das Sekretariat an, damit die Lehrerin
über die Verspätung meiner Tochter informiert wird. Als wir dort ankommen, verabschiede
ich mich mit einem Kuss auf die Stirn von meiner Tochter. Sie eilt in das alte vergraute
Schulgebäude mit den vielen Fenstern. Ich fahre mit demselben Taxi zurück, bis vor die
Haustür. Eigentlich sollte ich schon längst auf der Arbeit sein. Aber ich gehe erst mal nach
oben. In der Wohnung mache mir einen Kaffee und treffe dabei die Entscheidung, mich für
heute krank zu melden. Ich gehe zum Telefon, wähle die eingespeicherte Nummer vom Chef
aus und drücke auf die grüne Taste mit dem Hörersymbol drauf und melde mich für heute
krank. Außer mir gute Besserung zu wünschen und die Äußerung, dass ich schnell wieder
gesund werden soll, sagt mir der Boss zum Glück nichts. Danach suche ich die
Telefonnummer vom Busunternehmen aus einem Branchenbuch heraus. Ich möchte
unbedingt in Erfahrung bringen, was mit Herrn Diehsel ist. Der Anschluss ist besetzt. Auch
durch wiederholtes Drücken der Wahlwiederholung ist kein Durchkommen möglich. Ich
gebe mich geschlagen, schalte das Radio ein und lasse mich auf das Sofa fallen. Musik
ertönt. John Lennon mit »Imagine« glaube ich zu hören. Ein ungutes Gefühl steigt in mir auf.
Ich muss die Augen schließen. Alles dreht sich. Ich fühle mich wie kurz vor einer Operation
im Krankenhaus. Es ist also eine Art Angst, die ich spüre. Oder ich hab ein Kreislaufproblem.
Ich lenke mich ab, denke nach. Dass Herr Diehsel einmal zu spät kommt, habe ich zwar
nicht erwartet, aber es musste ja irgendwann der Tag kommen. Und der ist heute.
Ich mache eine Entspannungsübung. Die habe ich während der langen Scheidungsphase
von meiner Frau durch einen Therapeuten gelernt. Ich ärgere mich noch heute darüber, dass
sie uns einfach hat sitzen lassen, wegen eines anderen Kerls. In Gedanken stelle ich mir ein
schönes Bild vor. Der gemeinsame Strandurlaub funktioniert hier am besten. Sarah badet
überglücklich in der Ostsee und ich sehe ihr dabei zu. Diese Vorstellung ist deswegen
schön, weil meine Tochter niemals in der dunklen See planschen wollte. Es war ihr
unheimlich, dass sie den Grund nicht sehen konnte. Aber das legte sich schnell, sobald sie
erstmals nasse Füßchen bekam. Dieses Bild beruhigt mich.
Mir ist, als klopft es in meiner Fantasie. Da, schon wieder! Schnell verstehe ich, was los ist.
Das Klopfen kommt von der Wohnungstür. Ich bin wohl für einen kleinen Moment
eingenickt. Während die Wirkung meiner Entspannungsübung langsam aus meinem Körper
entweicht, öffne ich die Tür.
»Sarah, was machst du denn schon hier?« Ich schaue verwirrt auf die digitale Uhr neben der
Garderobe an der Wand. Halb elf und viel zu früh für Sarah.

ENDE der Leseprobe

By Tino Dietrich

Tino Dietrich, geboren 1976 in Norddeutschland, absolvierte ein Literaturstudium in Hamburg. Er hat viele Jahre als Inhaber von erfolgreichen Betrieben in der freien Wirtschaft gearbeitet. Seit 2012 arbeitet er als freiberuflicher Schriftsteller, zertifizierter Texter im Online-Marketing für diverse Agenturen sowie erfolgreich als Romanautor und Ghostwriter. Tino Dietrich bildet sich fortan weiter und ist begeistert vom Selfpublishing. 2014 wurde u. a. seine Kurzgeschichte „Im letzten Winter“ bei einem Schreibwettbewerb prämiert. Mit seinem Romandebüt „Mila und Paul – Sonne im Norden“ fand der Autor aus dem Norden seinen Platz in einer stetig wachsenden Lesergemeinschaft.

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